Jiuka auf historischen Abwegen
Ein völlig neues Angebot in unserer Sektion war die erste Budo-Wanderung mit Rainer Struensee.
Acht neugierige Sportkameraden trafen sich Samstag morgens am Waiblinger Bahnhof, um gemeinsam eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen.
Unsere erste Station war die Michaelskirche, ein imposanter Bau aus dem 15. Jahrhundert. Hinter ihrem schlichten Äußeren verbirgt sich ein sehr schön restaurierter Innenraum, in dem das mittelalterliche `Graffito´ Hans von Landaus genauso seinen Platz findet wie ein zeitgenössisches Kunstwerk zu Ehren Dietrich Bonhoeffers.
Überhaupt bietet Waiblingen eine überaus wechselvolle, spannende Geschichte.
Kaum jemandem dürfte bewusst sein, dass bereits vor 7000 Jahren Menschen in dieser Gegend siedelten, dass Waiblingen eines der ersten Wasserkraftwerke Baden-Württembergs besitzt oder dass die Menschen hier schon lange vor der modernen Genderdiskussion drei Geschlechter kannten:
Karolinger, Salier und Staufer.
Unser Weg führte uns zwischen Michaels- und Nonnenkirchle hindurch Richtung Altstadt.
Wir flanierten durch den verwunschenen Apothekergarten und genossen den Ausblick von der Holzplattform, bevor wir uns an die Rems hinunterbegaben.
An der gut erhaltenen Bürgermühle (Hahn´schen Mühle) waren die Hochwassermarken vergangener Jahrhunderte zu sehen. Verglichen damit dürfen wir heute eigentlich gar nicht jammern.
Doch Waiblingen war nicht nur dem Wasser ausgeliefert, sondern wurde im Lauf der Geschichte auch von feindlichen Truppen eingenommen und niedergebrannt.
An den schmalen Stadttoren, wie dem Bädertörle oder dem Tränktor kam es dabei wohl zu dramatischen Szenen.
Heutzutage reicht eine zu enge Unterführung in Kombination mit aufgeheizter Stimmung, um Menschen tragischerweise ziemlich grundlos zu Tode kommen zu lassen.
In jenen Tagen hätte sich davon wohl niemand beeindrucken lassen. Panik gab es, wenn die Stadt brannte und man durch die viel zu engen Gassen um sein Leben rannte oder wenn zwei Meter hinter einem gerade jemand von feindlichen Truppen aufgeschlitzt wurde.
Den sehr schön erhaltenen Wehrgang konnten wir an diesem Tag ein gutes Stück entlanglaufen; es waren auch Passagen geöffnet, die sonst nicht für den Publikumsverkehr bestimmt sind. Kaum zu glauben, dass in den Gebäuden am und um diesen Wehrgang tatsächlich Menschen wohnen! Allein der Einzug wird wohl Tage dauern, wenn man jeden Schrank erstmal in seine Einzelteile zerlegen muss, um ihn Brett für Brett durch den Gang und die engen Türen zu tragen… Es könnte aber auch sein, dass sich angesichts dieser Umstände eine „amerikanische Besiedlung“ kultiviert hat: Die Inneneinrichtung wird einfach an den Folgemieter vererbt! Zur Klärung des Sachverhalts bietet sich eine erneute Führung, diesmal durch die Gemächer der Wehrmauer, an. Freiwillige vor!
Noch ein Schlenker über die künstlerisch…ähm…abwechslungsreich gestaltete Talaue und schon gelangen wir durch das Beinsteiner Tor mit seinem morbiden Bildwerk zurück in die Altstadt.
Dort gewährt uns der Tourguide einen Einblick in architektonische Besonderheiten.
Von den meisten Passanten unbemerkt hat sich beispielsweise ein Jugendstilhaus unter die Fachwerkhäuser gemischt. Die Verzierungen deuten auf seine ehemalige Nutzung als Bandagen-Manufaktur hin.
Eine sehr eigenwillige Art der Verzierung sind die „Neidköpfe“. Sie verdanken ihr Dasein einem Dilemma, das auch heutigen Influencern geläufig sein dürfte.
Einerseits wollte die bürgerliche Gesellschaft ihrem neuen Selbstwertgefühl durch ansehnliche Häuser und mit teureren Farben bemalte Fachwerkbalken Ausdruck verleihen (die geneigte Leserschaft darf raten, welche das waren).
Andererseits wollte sie vermeiden, zur Zielscheibe missgünstiger Attacken zu werden. Ob „böser Blick“ oder „isch mach Auge auf disch“ – Neid ist niemals schön.
Die „Neidköpfe“ sollten die Bewohner ihrer Häuser vor solcherlei Unbill bewahren - durch abstoßende Hässlichkeit, engelsgleiche Anmut oder angsteinflößende Fratzen. Bemerkenswert: die Furcht vor Männern mit langen Schnauzbärten (inkorrekt als „Kroaten“ betitelt).Vermutlich steckten blutige Auseinandersetzungen mit Janitscharen (einer Art türkischer Ninjas) dahinter.
Ein hübsch restauriertes Fachwerkgebäude ist für unsereins zumeist ein Anlass stillen Frohlockens - vor allem, wenn man direkt daneben den Filigran-Beton der Sechziger- und Siebzigerjahre ertragen muss.
Die Waiblinger Bürgerschaft war der Holz – und Strohbauweise jedoch irgendwann überdrüssig. Die Materialien galten als billig und entsprachen nicht der EU-Norm für schwer-entflammbare Gebäude. Häuser aus Stein dagegen waren der absolute Hype. Doch was tun, wenn der Bausparvertrag noch nicht zuteilungsreif ist?
Ein findiger Schwabe kam auf die geniale Idee, sein Fachwerkhaus mittels Putz und geschickter Bemalung als Steinhaus zu tarnen.
War es ein glücklicher Zufall – oder doch Rainers weiser Voraussicht geschuldet?
Jedenfalls war an unserem Wandertag auch die Nikolauskapelle zugänglich, Heimat der griechisch-orthodoxen Gemeinde. Ein Blick ins Innere lohnt sich wirklich!
Der zoologisch-botanisch reizvollste Teil des Tages begann mit dem Weg durch das wunderschöne Remstal in Richtung Waiblingen-Neustadt. Wir konnten einen Blick in das Stihlmuseum erhaschen und kamen am Haufler Weinberg vorbei.
Diesen bewirtschaften Freiwillige aus verschiedenen Vereinen unter der Anleitung der Winzerfamilie Häußermann. So bleibt dieses Stück Kulturlandschaft erhalten, während die anderen ehemaligen Parzellen größtenteils zugewachsen sind.
Eisvögel bekamen wir zwar keine zu sehen, dafür aber Kormorane, die sich zum Trocknen auf die Botanik gesetzt hatten.
Wer findet sie auf dem Suchbild?
Nachdem wir nun seit mindestens 1634 ohne Verpflegung durch die Lande gezogen waren, freuten wir uns alle auf die kulinarischen Köstlichkeiten, die uns in Suses und Rainers Küche erwarten würden.
Wir wurden nicht enttäuscht!
Und das erklärt nun auch den zweiten Teil der Artikelüberschrift.
Ein riesengroßes Dankeschön an Rainer und Suse für diesen tollen Tag!
Silvia Calcara