Geschichte des Jiu-Jitsu

Eine von vielen Versionen aus dem Dunkel von Historie und Erzählung

Allgemeines

Die Bezeichnung Jiu-Jitsu bedeutet wörtlich: Technik oder Kunst (Jitsu / Jutsu) der Geschmeidigkeit, Flexibilität, Biegsamkeit, Sanftheit, Milde (alles verschiedene Übersetzungen des Ideogramms Jiu / Ju). All diese Begriffe repräsentieren ein einziges Prinzip, einen allgemeinen Weg, eine Technik anzuwenden, einen Weg, den menschlichen Körper als Waffe im Kampf ohne Waffen einzusetzen.

In Übereinstimmung mit diesem Prinzip können verschiedenartige Techniken angewendet werden, und tatsächlich hatte jede der alten japanischen der Schulen, deren Namen auch heute noch bekannt sind, dieses Prinzip in einer hochgradig individuellen und technisch unterschiedlichen Art und Weise umgesetzt. Eine Art und Weise, die streng geheim zu halten sich jede Schule bemühte und welche im Laufe der Zeit das jeweilige Charakteristikum der jeweiligen Schule wurde.

Die Wurzeln

Als Wurzel fast aller asiatischen Kampfkünste wird Indien betrachtet, von wo sie sich über Südostasien bis nach China und Japan verbreiteten und unterschiedliche Ausprägungen annahmen.

495 n.Chr. wurde in China das bekannte Shaolin-Kloster erbaut, in dem gymnastische Übungen zur Lockerung des Körpers nach langer Meditation entwickelt wurden. Diese Gesundheitsübungen wurden unter dem Einfluß der indischen Kunst in Verteidigungsübungen umgewandelt, die den Wandermönchen auf ihren langen Reisen gegen allerlei Anfeindungen helfen sollten. Es entstand das Kung-Fu oder Wu-Shu, das sich in unzähligen Stilen weiterentwickelte und bis heute in vielen Stilen einen hohen akrobatischen Anspruch stellt.

Die Ausprägung in Japan

Im 13. Jahrhundert tauchten in Japan erstmals die Samurai als bewaffnete Kämpfer auf. Sie etablierten sich als Kaste, die sich verstärkt der Kriegführung und den Kampfkünsten widmete.

In verläßlichen Quellen taucht die eigentliche Kunst des Jiu-Jitsu erstmals im 17. Jahrhundert auf und wird namentlich erstmals in Büchern, die sich mit den Kampfkünsten beschäftigen, wie z.B. das „Bugei Shogen“ und das „Kempo Hisho“, genannt. Meister Jigoro Kano, der Begründer des Judo (eine Disziplin, die hauptsächlich – wenn nicht gar vollständig – auf dem oben genannten Prinzip beruht), verfolgte die Entstehung des Jiu-Jitsu unter diesem Namen bis in die Zeit zwischen 1600 und 1650 zurück. Ältere waffenlose Kampfkünste gehen unter anderen Namen noch wesentlich weiter in die japanische Geschichte zurück und flossen später in die verschiedenen Schulen des Jiu-Jitsu ein. Hauptsächlich waren dies jene Stile, die die frühen Samurai neben ihren Waffenkünsten im Kampf unterstützten, wie z.B. das Yawara-ge, das Yawara-gi, das Kogusoku (auch Koshi-no-mawari genannt), das Torite und frühe Formen des heutigen Sumo.

Die eigentliche Blüte erreichten die waffenlosen Kampfkünste aber erst in der Edo-Zeit, da sie früher für die Samurai wegen ihrer raffinierten Bewaffnung eine untergeordnete Rolle spielten und dem einfachen Volk der Zugang zu irgendwelchen Kampfkünsten schlicht nicht möglich war.

Im Bezug auf konkrete Kampfstrategien bedeutete das Prinzip des „Ju“: Angepaßt, flexibel und vernünftig auf strategische Manöver des Gegners zu reagieren und seine Manöver und die darin steckende Kraft zu nutzen, um ihn zu besiegen oder wenigstens seinen Angriff zu neutralisieren. Die grundlegende Frage war immer: “Funktioniert es – ist es im Kampf effektiv?“ Die Antwort auf diese Frage wurde ganz konkret durch die Ergebnisse von Duellen und öffentlichen Wettkämpfen zwischen den Mitgliedern der verschiedenen Schulen geliefert. Die Brutalität dieser Begegnungen und ihr häufig tödliches Ende ist lebhaft in Harrisons Werk „The Fighting Spirit of Japan“ dargestellt.

„In jenen Tagen waren die Wettkämpfe extrem hart, und nicht selten kosteten sie die Teilnehmer das Leben. So sagte ich meinen Eltern stets Lebewohl, wenn ich aufbrach um an irgendeiner dieser Begegnungen teilzunehmen, da ich nie sicher sein konnte, wieder lebend zurückzukehren. Die Wettkämpfe waren derart intensiv, dass nur wenige Techniken angewendet wurden und wir nie zögerten, die gefährlichsten  Methoden [im Sinne von tödlichen Techniken] anzuwenden, um den Gegner zu besiegen.“

In diesen turbulenten Begegnungen (wie sie historisch unter den Speerkämpfern und unter den Schwertkämpfern üblich waren) war es oft eine Frage von „gewinne oder verliere alles“.
Solch ein Prozeß der Qualifizierung (man könnte auch sagen: Eliminierung) durch praktische Tests gewährleistete nicht nur ein ständiges Bestreben, die Waffen und auch ihre technische Anwendung zu perfektionieren, er festigte auch die Reputation der Schulen, deren technische Perfektion besonders ausgeprägt war. Es gab unzählige Schulen, die durch die gekonnte Adaption des „Ju“-Prinzips für ihre Techniken sehr effektive Methoden des Kampfes entwickelten. Die folgenden dieser Schulen sind (neben vielen anderen) in Chroniken über die Kampfkünste als sehr beachtenswerte und bedeutende Schulen des Jiu-Jitsu erwähnt: der Tenjin-Shinyo-Ryu, der Takenouchi-Ryu, der Sosuishitsu-Ryu, der Kito-Ryu und der Sekiguchi-Ryu. Zusammen mit einigen anderen erfuhren diese Schulen eine modifizierende Synthese im von Meister Jigoro Kano im 19. Jahrhundert gegründeten Judo.

Die Tenjin-Shinyo-Ryu:

Besonders bekannt für ihre verschiedenen Techniken des Schlagens (Atemi-Waza), des Festlegens (Torae) und des Würgens (Jime) ist die Tenjin-Shinyo-Schule des Jiu-Jitsu. Sie wird allgemein als Ergebnis der Fusion zweier alten Schulen, des Yoshin-Ryu- und Shin-no-Shindo-Ryu, betrachtet.

Die Wurzeln des Yoshin-Ryu sind immer noch Gegenstand großer Debatten in der Lehre. Viele glauben, der Begründer dieser Kunst sei ein Arzt aus Nagasaki gewesen, ein gewisser Akiyama Shirobei Yoshitoki, der im 17. Jahrhundert nach China ging, um seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Medizin zu vertiefen. Während er dort verschiedene Künste der Wiederbelebung studierte (Hassei-Ho; später die komplexe Kunst Kappo oder Kuatsu), kam er in Kontakt mit den chinesischen Kampfkünsten und deren grundlegenden Prinzipien. Vor allem beschäftigte er sich mit den Schlagtechniken, die – wenn sie auch erst viel später entstand – eine Hauptdisziplin seiner Schule wurden.

Zurück in Japan arbeitete er diese „Saat“ in völliger Isolation nahe eines Waldtempels weiter aus. Sein persönliches Trainingsprogramm beinhaltete sowohl Sportübungen als auch die Meditation. Mit der Zeit entwickelte er ungefähr 300 Kampftechniken, die alle auf dem „Ju“-Prinzip (Geschmeidigkeit) beruhten, wie es auch im Namen seines Stil zum Ausdruck kommt: „Yo“ bedeutet „Weide“ und „Shin“ bedeutet „Geist, Seele, Absicht“ oder „Herz“. Das Bild der sich geschmeidig biegenden Weide, die sich auch nach dem wildesten Hurrikan wieder aufrichtet, während die kräftige, aber starre Eiche laut krachend vom Sturm umgerissen wird, wurde so in den Chroniken der Kampfkünste begründet und dient – wenn auch indirekt - als Nachweis des chinesischen Einflusses auf diese geistige Richtung in Japan, die das Prinzip des Nachgebens allen anderen als überlegen betrachtet. Dies nicht nur im moralischen Zusammenhang, sondern auch (und für den Kämpfer insbesondere) in der konkreten und praktischen Realität des Kampfes.

Als Begründer der anderen Schule, des Shin-no-Shindo, wird ein gewisser Yamamoto Tamizaemon, ein Polizist aus Osaka, betrachtet. Dieser fügte andere Techniken, besonders jene zum Festlegen (Torae), zu dem bereits beeindruckenden Repertoire der Yoshin-Ryu hinzu. Beide Teile wurden letzten Endes durch die Bemühungen von Meister Yanagi Sekizai Minamoto Masatari (später auch als Meister Iso Mataemon) bekannt, dessen erstaunlicher Mut in der Kunst des unbewaffneten Kampfes, insbesondere im Gebrauch der Atemi-Waza, viele anschauliche Seiten in der Kampfsport-Literatur füllt, im späten 19. Jahrhundert zu einem systematischen Ganzen vereinigt.

Von ihm wird berichtet, dass er ein außergewöhnlicher Jiu-Jitsu-Meister war, der vollkommen in Theorie und Praxis des unbewaffneten Kampfes versiert war. Nachdem er die Techniken der Yoshin-Ryu und der Shin-no-Shindo unter Meister Hitotsuyanagi beziehungsweise Meister Homma studiert hatte, reiste er von Schule zu Schule, wo er die lokalen Champions herausforderte. Im Laufe dieser Pilgerfahrt (nach welcher er eine Schule in Edo eröffnete, in der er seine Methode an Gefolgsleute des Tokugawa-Clans weitergab) soll er sich er sich einer Gruppe von Söldnern gegenüber gestellt haben, die eine hohe Geldsumme von Bauern erpressen wollten, die Meister Mataemon beherbergten (oder wahrscheinlich – was unter ähnlichen Umständen üblich war – ihn eigentlich angeheuert hatten). Die verfügbaren Aufzeichnungen beschreiben dieses Zusammentreffen als „wilden Kampf“, in dem der Meister und einer seiner besten Schüler die zerstörerischen Effekte sauber angebrachter Atemi-Waza demonstrierten, selbst wenn sie gegen professionelle und bewaffnete Angreifer angewendet werden. Diese Angreifer erhielten übrigens keine Beute, sondern viele Verletzungen von ihren vermeintlichen Opfern, sehr zur Befriedigung der Bauern.

Mataemon war auch ein gewissenhafter Theoretiker, der offenbar eine asketische Sichtweise der Kampfkünste vertrat. Seine beständigen Warnungen vor Alkohol oder vor unkontrollierter Lust und Käuflichkeit, die er an seine Schüler richtete, reflektierten einen ganz bestimmten moralischen Typ, der seine Wurzeln in der militaristischen Vergangenheit hatte und zu seiner Zeit langsam unter dem Druck kaufmännischer Opulenz und allgemeiner Trägheit unterzugehen schienen.

Seine Ideen und Überlegungen zum „Ju“-Prinzip waren von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Kunst – Ideen, die noch immer in den verschiedenen modernen Fassungen der unbewaffneten Kampfkünste, wie z.B. Meister Kanos Judo, erkennbar sind. Nach Mataemon zieht die übertriebene Ausbildung  der Muskeln und somit übertriebenes Vertrauen auf die Muskelkraft eine Starrheit und Langsamkeit nach sich, die üblicherweise mit dem Tragen einer Rüstung oder aber auch dem Altern verbunden ist. Er bevorzugte es, die Geschmeidigkeit zu betonen, die er als die am besten sichtbare Charakteristik des Lebens und der Tat ansah. Folglich empfahl er seinen Schülern, die Techniken seiner Schule im Kampf schnell, aber ohne übertriebene Anspannung, auszuführen und dies auch nur, wenn der Gegner seinerseits durch einen Angriff seine Verteidigung geschwächt und den größten Teil der Kraft zu seiner Überwindung geliefert hatte.

Takenouchi-Ryu:

Die alte und faszinierende Schule des Takenouchi-Ryu ist, wie aus Berichten hervorgeht, auch heute noch in Japan aktiv. Sie wurde über 12 Generationen an den jeweiligen Erben weitergegeben. Es wird allgemein angenommen, dass sie von einem hochrangigen Krieger, nämlich Hisamori (1522-46), zu der Zeit als Kaiser Gonara den Thron inne hatte (1522-57), gegründet wurde. Von Takeuchi wird gesagt, dass er eine große Zahl bewaffneter und unbewaffneter Bujutsu-Techniken systematisiert habe, beides während und nach einer Periode intensiven Studiums und Experimentierens in der Wildnis, wo er mit einem hölzernen Schwert (Bokken) und einem Stock (Jo) an beweglichen Zielen trainierte.

Er betonte den Gebrauch der Festlegetechniken (Osea-Waza), die er systematisch in fünf „Schlüsseln“ oder Gruppen (Go-Kyo) organisierte, entsprechend bestimmter Prinzipien ihrer Ausführung, die auch heute noch in modernen Ableitungen alter Kampfkünste gefunden werden. Takeuchi unterrichtete diese und andere „Schlüssel“ ebenso, wie Techniken des Messerkampfes (alle besonders effektiv im Nahkampf).

Diese Tatsache in der Methodik von Takeuchi veranlaßte verschiedene Kampfkunstexperten, wie z.B. Shidachi, seine Kunst eher der Gruppe der Ko-Gusoku als der „reinen Kunst“ des Jiu-Jitsu zuzuschlagen. Auf jeden Fall waren die Techniken seiner Schule erwiesenermaßen extrem effektiv und zahllose Kämpfer strömten in sein Dojo.

Nach den Rollen und Manuskripten (Makimono), die die Aufzeichnungen dieser Schule darstellen, wurde Takeuchis Sohn sogar gebeten, Techniken aus dem Lehrprogramm seines Vaters (über 600) vor Kaiser Gomizuno (1611-29) vorzuführen. Nach der Vorstellung vergab der Kaiser den Titel „Erhabene und unübertroffene Kunst des Kampfes“ (hi-no-shita toride-kaizan) an diesen Stil. Außerdem gab er den Schülern dieser Kunst die Erlaubnis, die kaiserliche Farbe „violett“ für die Stricke zu benutzen, die für die Spezialtechniken der Schule (Festlegetechniken) verwendet wurden.

Sosuishitu-Ryu:

Eine interessante Ableitung des Takenouchi-Ryu ist der Sosuishitu-Ryu, der angeblich von dem Samurai Fugatami Hannosuke 1650 gegründet wurde. Dieser Krieger entwickelte nach einer Zeit der Läuterung in den Yoshino-Bergen seine eigene Methode des Kampfes aus denen, die er erlernt hatte. Er benannte seine Kunst nach den „reinen, fließenden Wassern“ des Yoshino-Flusses und unterrichtete sie dann an Shitama Mataichi (die Mitglieder seiner Familie waren dann über Jahrhunderte Meister dieser Kunst). Schließlich vereinigte sich die Schule mit Meister Kanos erfolgreicher Synthese der „Ju“-Künste, weltweit bekannt als Judo.

Die Kito-Ryu:

Die Kito-Ryu verdient wegen ihrer esoterischen Elemente einen besonderen Platz in der Lehre der waffenlosen Kampfkünste. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sind formale Übungen (Kata), die von den modernen Abkömmlingen der Kito-Schule erhalten worden waren. Einige der vorhandenen Aufzeichnungen sehen den Ursprung dieser Schule in einer chinesischen Kampfkunst, die ebenfalls auf dem „Ju“-Prinzip basiert und von Ch-En Yuan-Pen (in japanischen Aufzeichnungen „Tsin Gempin“ genannt) ausgewählten Kriegern des 17. Jahrhunderts erklärt und veranschaulicht wurde. Gempin, der früher Würdenträger am chinesischen Gerichtshof war, hatte Japan 1621 besucht und ließ sich 1638 permanent dort nieder, um der wachsenden Macht der Manchu-Dynastie zu entkommen. Als Poet und Gelehrter sicherte er sich durch das Verfassen von Abhandlungen über chinesische Philosophen wie Lao-tzu und T'ung K'ao und die Einführung vieler Werke chinesischer Poeten in die damalige japanische Kultur eine angesehen Position bei den japanischen Adligen jener Zeit (v. a. der Owari-Familie). Ebenso arbeitete er mit dem gelehrten japanischen Priester Gensei in einer Menge literarischer Arbeiten zusammen.

Von Gempin wird behauptet, dass er drei herrenlose Samurai (Ronin) in einer Kunst „des Ergreifens / Festhaltens“ unterrichtete, die er in China geübt hatte. Die Namen der drei Krieger wurden pflichtbewußt überliefert: Fukuno Hichiroemon, Isogai Jirozaemon und Miura Yojiemon.

Diese drei Männer setzten ihr Studium der Kampfkunst später im Kokusei-Kloster in Azabu fort und verstanden die zentralen Prinzipien der Kunst Gempins offensichtlich sehr gut, denn von ihnen heißt es, dass sie nachträglich ihren eigenen Stil gegründet haben, den Kito-Ryu.

Andere Interpretationen des vorhandenen Materials zu diesem Thema sagen, dass der Gründer des Kito-Ryu ein gewisser Terada, ein Samurai im Dienste Kyogokus, einem Daimyo, der eng mit den Tokugawa verbunden war, gewesen sei. Seine Kampfmethode hatte er von den zwei großen Jiu-Jitsuka Yoshimura und Takenada geerbt. Die Techniken wurden gewöhnlich in voller Rüstung oder in förmlichen Kitteln, die an Rüstungen erinnern, durchgeführt. Sie zielten hauptsächlich darauf ab, den Gegner auf den Boden zu werfen. Wenn man heute eine Reihe formaler Übungen (Kata) dieser Schule beobachtet (Koshiki-no-kata oder „klassische Form“), wie sie von hochrangigen Anhängern des Kodokan-Judo praktiziert werden, ist man sofort von den weichen, fließenden Bewegungen des angewendeten „Wa“-Prinzips (Einigkeit / Harmonie) beeindruckt.

Man sieht es nicht einfach als eine geschmeidige Vermischung von Strategie, Bewegung und Aktion mit denen des Gegners, sondern vielmehr als eine umfassende Vermengung des „Ichs“ mit der gesamten Umgebung, von denen der Gegner nur ein einzelner Teil ist. Die Techniken als solche erscheinen extrem kompliziert und nur schwer zu verstehen, sogar von Kampfkunstexperten wie Meister Kano und Meister Uyeshiba, der Begründer des modernen Aikido. Beide hatten sie ausgiebig studiert – Meister Kano bei Meister Iikubo und Meister Uyeshiba bei Meister Meister Tozawa Tokusaburo – bevor sie viele herausragende Eigenschaften dieser interessanten Kunst in ihre eigenen moderen Lehren übernahmen.

Die Sekiguchi-Ryu:

Die mächtige Sekiguchi-Ryu verfolgte ihre Wurzeln bis in das 17. Jahrhundert und den Namen auf Sekiguchi Jushin zurück, ein Meister von dem behauptet wird, dass er sich in den Kampfkünsten durch Ehrlichkeit und Objektivität auszeichnete, Eigenschaften , die er zusammen mit den Techniken seiner Schule scheinbar erfolgreich an seine Söhne weitergab. Die Worte seines ältesten Sohnes Rohaku an einen mächtigen Baron in Edo im Jahre 1716 sind in der Doktrin der Kampfkünste verzeichnet und zeigen seine Verachtung für jene Meister der Kampfkünste, die durch das Vorführen von Tricks für ihre Schulen werben und „den Leuten Sand in die Augen streuen“, wodurch sie die Kampfkünste als Ganzes herabwürdigen und Schande über die „wahren“ Meister bringen.

Der Weg zum Judo

Viele andere alte und ehrbare Schulen, wie z.B. der Yagyu-Shingan-Ryu der Date-Familie (von der es heißt, sie hätte über 2000 Kampftechniken in ihrem Programm gehabt), der Juki-Ryu von Sawa Dochi wie auch ihrer verschiedenen Zweige und Abkömmlinge, ihr stetiger Fortschritt durch Lehrer und in Disziplinen, sind in der Doktrin der Kampfkünste als vorrangig vom "Ju"-Prinzip beeinflußt aufgelistet, ein Prinzip das vom ehrwürdigen Jigoro Kano als verblüffend effizient interpretiert wurde.

Nachdem Kano bei Teinosuke Yagi die Grundlagen des Jiu-Jitsu gelernt hatte, studierte er ab 1877 bei den Meistern Hachinosuke Fukuda und Masatomo Iso die Techniken der Tenjin-shinyo-Schule und ab 1881 bei Meister Kuwakichi Iikubo die Techniken der Kito-Schule, bevor er bereits 1882 den Kodokan (Schule zum Studium des Weges / der Künste) gründete und das Kodokan-Judo entwickelte.

Dieser große Erzieher und Gelehrte betonte bestimmte erzieherische Aspekte und der Entwicklung des menschlichen Charakters und der Persönlichkeit entlang ethischer Richtlinien durch die Veränderung der mittelalterlichen Techniken des Jiu-Jitsu und die Änderung des Namens seiner methodologischen Synthese in Judo – der Weg (Do) der Geschmeidigkeit oder Milde (Ju).

Der Niedergang der Künste

Mit der Meiji-Herrschaft (ab 1868) begann die "moderne Ära", die durchgreifende Reformen mit sich brachte. In dieser Zeit verschwanden viele der bekannten Budo-Schulen, da sie als traditionelle Einrichtungen auch von der Meiji-Restoration betroffen waren, in der eine starke Verwestlichung Japans stattfand und alles ursprünglich Japanische abgelehnt und verneint wurde.

Hier taucht nun ein Schwabe auf, der jedoch einen sehr umstrittenen Platz in der Geschichtsschreibung des Budo einnimmt. Sind die Berichte jedoch wahr, so wären viele der heutigen Kampfsportarten und -künste seinen Bemühungen zu verdanken. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass weder Jigoro Kano, noch Erwin Baelz den jeweils anderen in ihren Niederschriften erwähnen. Es ist also eher davon auszugehen, dass Erwin Baelz den ihm unterstellten Einfluß auf Jigoro Kano nicht ausübte.

Der Schwabe Prof. Dr. Erwin Baelz lehrte um 1876 an der kaiserlich japanischen Universität in Tokio. Er bemühte sich um die Einführung von Sportunterricht als körperlicher Ausgleich für die Studenten und bot dabei auch Jiu-Jitsu an, das er bei den Polizisten der Provinz Tshiba kennengelernt hatte. Unter seinen Schülern soll auch der junge Jigoro Kano (28. Oktober 1860 bis 04. Mai 1938) gewesen sein, der später das Judo entwickeln sollte.

Bis 1882 wurde das Jiu-Jitsu als rein technische Form ohne geistigen Hintergrund ausgeführt. Dies änderte sich durch Jigoro Kano, der ein eigenes System entwickelte und in Tokyo den Kodokan gründete. Jigoro Kano ergänzte die Kunst durch Grundprinzipien, die den heutigen geistigen Hintergrund begründeten. Dazu gehörten die Etikette, die Disziplin, die soziale Verantwortung und die geistigen und ethischen Grundsätze des Do.

Die Gakushuin Universität erkannte den erzieherischen Wert des Kano-Jiu-Jitsu und nahm es 1883 als erste Schule in den Lehrplan auf.

1886 wurde ein Entscheidungskampf um die künftige offizielle nationale Vertretung im Budo per kaiserlicher Polizeiverordnung angeordnet. So mussten sich jeweils 15 Kämpfer des Kodokan und des Ryoi Shintoryu (einer anderen großen Schule) stellen, um die beste Stilrichtung der Kunst zu ermitteln. Der Wettkampf endete mit einem grandiosen Sieg für das Kodokan. Bis auf zwei Unentschieden wurden alle Kämpfe von den Schülern des Kodokan gewonnen. Ab diesem Zeitpunkt wurde dann das Kano-Jiu-Jitsu die offizielle Budokunst, die Japan nach außen repräsentierte.

Ungeachtet der Betonung breiter moralischer Abwägung im Kampf wurde Meister Kanos Kunst in eine rauhe und konkurrenzfähige Umgebung geboren und von dieser beeinflußt, konnte sich aber dennoch in ihrer höchst komplexen und trotzdem effektiven Methode des „Kampfes durch Nachgeben“ etablieren. Die Kunst verbreitete sich über die ganze Welt und wurde als Wettkampfsport Teil der olympischen Spiele. So erfüllte sich – wenn auch posthum – Meister Kanos großes Ziel.

Heute bietet Judo ein großes Repertoire an Kampftechniken, die in fünf Hauptgruppen unterteilt werden. Diese Techniken bergen alle das „Ju“-Prinzip, jedoch nicht nur im Sinne von passiver Geschmeidigkeit im buddhistischen Sinne, sondern auch als aktives Prinzip des Gegenangriffs, das die Kunst so extrem effektiv sowohl im Wettkampf als auch im realen Kampf macht. Judo wurde als Kampfkunst gründlich in der Zeit vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts getestet. Die Wahrnehmung seiner Vortrefflichkeit in Theorie und Praxis des waffenlosen Kampfes durch die Öffentlichkeit half, viele der anderen Schulen und Methoden vor der weit verbreiteten Ablehnung und schließlich dem Vergessen zu retten. Tatsächlich schloß sich 1905 die Mehrheit der alten Jiu-Jitsu-Schulen Meister Kanos Schule an, und der Ruhm des Kodokan-Judo begann sich über die Welt zu verbreiten.

Die Entwicklung in Europa

Um 1900 wurden bereits in Österreich, England und Amerika Polizeibeamte von Japanern im Jiu-Jitsu unterrichtet.
1906 gründet Erich Rahn die erste "Berliner Jiu-Jitsu-Schule. Er hatte das Jiu-Jitsu bereits einige Zeit als Hobby betrieben.

Vom 24.-29. Juni 1906 besuchte die japanische Flotte mit zwei Kreuzern erstmals Deutschland. Während des Besuchs wurde auch das Jiu-Jitsu durch die Japaner vorgestellt. Der Kaiser Wilhelm II zeigte sich sehr beeindruckt und verlieh verschiedene Auszeichnungen an die japanischen Kämpfer. Er lud Meister Agitaro nach Berlin ein, wo er an der Hauptkadetten- und Militärakademie unterrichtete.

1910 wurde das Jiu-Jitsu zum Ausbildungsbestandteil für die ersten Einheiten von deutscher Polizei und Militär.
1912 besuchte Prof. Jigoro Kano die Schule von Erich Rahn in Berlin.

Während des ersten Weltkriegs wurde die Entwicklung in Deutschland unterbrochen.

1922 wurden die ersten Vereine gegründet. Erich Rahn wurde 1. Prof. Meister im Jiu-Jitsu, und Ago Glucker gründete eine Schule in Stuttgart. Zwei Jahre später, 1924, wurde der erste Reichssportverband für Jiu-Jitsu gegründet und 1926 erstmals farbige Gürtel eingeführt. 1930 waren bereits 110 Jiu-Jitsu-Vereine in Deutschland registriert, die jedoch in verscheidenen Verbänden organisiert waren.

1932 fand die organisatorische Trennung von Judo und Jiu-Jitsu statt (Gründung der EJU - Europäische Judo-Union). Die Selbstverteidigung aus Kanos System behielt den Namen Jiu-Jitsu ("Sanfte Kunst"), der wettkampfsportliche Teil bekam den Namen Judo ("Sanfter Weg").

Nach der Machtübernahme 1933 wurden das Jiu-Jitsu und das Judo in die Schwerathletik eingegliedert. 1934 fanden die ersten Europatitelkämpfe statt, die vom 1. Dresdner Jiu-Jitsu-Club ausgerichtet wurden.
Mit dem Kriegsbeginn 1939 wurden das Jiu-Jitsu und das Judo teilweise als "geheime Reichssache" eingestuft und blieb hauptsächlich den Militärs vorbehalten.
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs waren das Judo und Jiu-Jitsu laut Kontrollratsgesetz in Deutschland und auch in Japan verboten. Erst nach langen Verhandlungen wurde in 1948 zuerst das Judo und später das Jiu-Jitsu wieder freigegeben.

In Japan ging die Geheimniskrämerei auf dem Gebiet des Budosports langsam zu Ende, und man konnte neue Ideen schöpfen.

1953 wurde der Deutsche Judobund (DJB) gegründet, dem sich langsam die bereits zuvor gegründeten Landesverbände anschlossen. Er wurde vom Deutschen Sportbund als Dachorganisation aller deutschen Judoka anerkannt. Seine Hauptausrichtung lag jedoch im Judo, wobei die Jiu-Jitsu-Selbstverteidigung aber noch bis in die siebziger Jahre im Prüfungsprogramm verankert war. Prüfungen ausschließlich in der Selbstverteidigung waren bis zum 3. Kyu (bei sechs Kyu-Graden) möglich, wobei für den 6. Kyu mindestens eine Abwehr, für den 5. Kyu mindestens zwei Abwehren usw. für jede Art des Angriffs gezeigt werden mussten. Das Judo mit der Selbstverteidigung des Jiu-Jitsu wurde zwischenzeitlich in ganz Europa unterrichtet.

1969 entwickelte der Deutsche Judo-Bund das Ju-Jutsu. Man verfolgte dabei das Ziel, eine eigene Selbstverteidigung zu etablieren und bediente sich der bekannten Techniken aus dem Judo, Aikido und Karate. Das Resultat war eine mit dem Jiu-Jitsu fast identische Form. Viele Jiu-Jitsuka verließen daraufhin den DJB, da sie sich plötzlich ausgegrenzt und nicht mehr verstanden sahen.
Es entstanden in der Folgezeit viele Jiu-Jitsu-Verbände, die sich meist regional konzentrierten und zwischen denen teilweise erbitterte Rivalität, aber auch kameradschaftliche Kooperation entstand.

Ende der 80er Jahre / Beginn der 90er Jahre erkannte der Deutsche Judo-Bund den ungebrochenen Wert und die Beliebtheit des Jiu-Jitsu in Deutschland und gründete die Bundesgruppe Jiu-Jitsu im DJB. Viele Jiu-Jitsuka hofften nun wieder auf eine einheitliche Anlaufstelle im Rahmen des Deutschen Sportbundes und schlossen sich der Bundesgruppe an. Bereits wenige Jahre später wurde diese Ansätze jedoch wieder zunichte gemacht, da der DJB durch seine Neuordnung und organisatorische Umstrukturierung alle Bundesgruppen auflöste und die Zuständigkeiten für andere Budokünste als dem Judo an die Landesverbände verwies.

1996 kam es zur Gründung der Sektion Jiu-Jitsu im Württembergischen Judo-Verband, die eine der ersten Fachsektionen für Jiu-Jitsu in den Landesverbänden des Deutschen Judo-Bundes darstellt.

Übersetzungen und Zusammenstellung: Matthias Holder

Ehemaliger Referent für Öffentlichkeitsarbeit