Das Konzept einer Judo-Selbstverteidigung
(nach Suppa, Pöhler, Podiwin, gemäß den Empfehlungen des DJB)
Das Konzept für eine judobezogene Selbstverteidigung hat sich an mehreren Anforderungen zu orientieren:
- die erfolgreiche Verteidigung in Gefahrensituationen außerhalb der sportlichen Sphäre mit dem judospezifischen Technikrepertoire
- situationsgerechtes Training unter sportlichen Aspekten (bzw. breitensportlichen Bedingungen)
- Integration des "Selbstverteidigungs-Programmes" in eine wettkampfbezogene bzw. judo-sport-bezogene Ausbildungs- und Prüfungsordnung
Das Trainieren von Selbstverteidigungstechniken verlangt, dass eine entsprechende Gefahrensituation vorliegt. Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin, diese tatsächliche Gefahrensituation realitätsnah darzustellen.
Diese Ausgangssituation ist zunächst noch mit dem Wettkampfjudo zu vergleichen, auch hier müssen realistische Wettkampfsituationen dargestellt werden. Die Umsetzung in die Selbstverteidigung ist allerdings in soweit problematischer, dass mit einem Regelwerk trainiert werden muß, die Gefahrensituation aber selbst regellos ist. Daher ist die reale Anwendung der erlernten Techniken in der Regel nicht möglich, ebenso wie der tatsächliche Wettkampf durch Yaku-Soku-Gaiko oder bedingtes Randori nur bedingt, d.h. wettkampfnah und wettkampfadäquat, trainiert werden kann.
Der Bereich der judobezogenen Selbstverteidigung, will man sie mit einem Realitätsbezug trainieren, erfordert auch die Vermittlung der Situationskenntnis.
Allgemeine Grundsätze
Judo ist Sport
Die Judotechniken eignen sich aufgrund des Zweikampfcharakters der Sportart für die Lösung von Selbstverteidigungssituationen.
Judo ist niemals ein vollständiges Selbstverteidigungs-System.
Das Wahlprogramm erhebt keinerlei Anspruch in dieser Richtung.
Lernziele
- Judotechniken sollen in weiteren, diesmal jedoch in selbstverteidigungsbezogenen Ausgangsituationen kennengelernt werden.
- Dies soll zu einer erfolgreichen Verteidigung in Gefahrensituationen außerhalb der sportlichen Spähre befähigen.
- Eine Beschränkung des Wahlprogramms "judobezogene SV" nur auf die Techniken der jeweiligen Ausbildungsstufe verzerren den Aspekt der Selbstverteidigung stark. Nicht für alle Techniken der APO lassen sich sinnvolle selbstverteidigungsbezogene Ausgangssituationen finden. Nur da wo es sinnvoll erscheint sollen die Ausgangssituationen mit den Techniken der Ausbildungsstufe gelöst werden.
- Mit dem Erarbeiten von Selbstverteidigungs-Situationen soll erst begonnen werden, wenn eine erste Judo-Grundlage erarbeitet wurde (6. Kyu). Da das SV-Wahlprogramm als Alternative zur Stand-Komplexaufgabe gedacht ist, kann das judobezogene SV-Programm ab dem 5. Kyu gewählt werden.
In der jeweiligen Ausbildungsstufe werden nur die selbstverteidigungsbezogenen Ausgangssituationen vorgegeben. Je Ausbildungsstufe sollen drei Ausgangssituationen mit jeweils zwei Judotechniken gelöst werden – d.h. 6 Aktionen müssen demonstriert werden – wobei 2 Judotechniken aus der jeweiligen Ausbildungsstufe gewählt werden müssen. Hinzu kommen beim 2. Kyu 2 Shime-Waza und beim 1. Kyu 2 Kansetsu-Waza, die aus je einer sinnvollen Ausgangssituation demonstriert werden müssen.
Methodische Grundsätze
- Gehe von judonahen Ausgangssituationen (wie Fassen, Umklammerungen) zu judofernen (Schläge, Tritte, Angriffe mit Waffen ...)
- Gehe von judonahen eigenen Handlungsmöglichkeiten (wie Grifflösen, Ausweichen) zu judofernen (Blocken, Atemi-Waza, Fingerhebel ...)
- Komme – ohne die Selbstverteidigungs-Situationen zu verfremden – von einer SV-Ausgangssituation zu einer judospezifischen Handlungssituation (z.B. einseitiges Reversfassen, Diagonalgriff etc.)
- Wichtig: Lerne nicht 1001 "Tricks", sondern wenige effektive und "universelle" Techniken, die auf das eigene Bewegungsvermögen abgestellt sind.
- Geübt werden sollte in rechter und in linker Ausführung, wobei der Angriff unterschiedlich sein kann. In einer Verteidigungssituation muß der Verteidiger rechts wie links reagieren können. Zudem erweitert sich so das Bewegungsrepertoire des Übenden und wir haben eine positive Rückkoppelung auf die allgemeinen Judotechniken.
- Die Techniken sollten auch mit einem Partner ohne Judogi geübt werden.
- Verkettungen und Folgereaktionen nach dem Wurf können - wo es angebracht erscheint - mit geübt werden.
- Wichtig für die Durchführung der Übungssituationen ist ein dynamisches Uke-Verhalten in den Angriffssituationen.
Beispiele zu den methodischen Grundsätzen
(Von judonahen Ausgangssituationen zu judoferneren Ausgangssituationen)
1. Ein- oder beidhändiges Fassen (fassen wollen)
Der Angreifer fasst den Kragen oder die Jacke von vorne und drückt oder zieht. Diese Ausgangssituation ist nahezu identisch mit einer Standardsituation im Judo, wenn mögliche Kombinationen, z.B. mit Schlägen zunächst ausgeklammert werden.
2. Würgen von vorne mit beiden Händen
Der Angreifer würgt mit beiden Händen und schiebt. Diese Ausgangssituation ist keine typische Wettkampfsituation, aber bis auf die Aktion der Hände bewegungsmäßig der 1. Ausgangssituation verwandt. Hier sind später das Schieben gegen eine Wand oder Kombinationen im Angriff, z.B. mit O Soto Otoshi, um am Boden weiter würgen zu können, zu üben.
3. Uke faßt den Kragen oder die Jacke von hinten
Der Angreifer faßt den Kragen oder die Jacke von hinten und drückt oder zieht. Diese Ausgangssituation hat keine Identität mit einer Wettkampfsituation im Judo. Hier muß bei Berücksichtigung möglicher weiterer Aktionen des Angreifers, z.B. Schläge, agiert werden. Diese Ausgangssituation kann auch in eine judospezifische Handlungssituation – "recht-links" – hoher Griff in den Nacken – überführt werden.
4. "Nelson-Angriff" oder ein Fußtritt in den Unterleib
Die Angriffssituation kann nicht in eine Wettkampfsituation überführt werden. Es können Judotechniken eingeschränkt eingesetzt werden. Das Bewegungsmuster und Bewegungsverhalten ist aber schon deutlich zu unterscheiden von den bekannten Ausgangssituationen im Judo.
Achtung – Der Nelson-Griff ist sehr gefährlich, wenn der Angreifer die Hände hinter den Kopf bringen kann! Diese Situation ist unbedingt durch das frühzeitige Abklemmen des Griffes mit eigenen Oberarmen zu vermeiden.
Bei Fußtritten ist das Ausweichen und das Distanzverhalten gesondert zu üben.
Die Situationsverwandtschaften von Wettkampf-Judo und Judo-SV
Judo-Handlungssituation "rechts-rechts" – hoher Griff in den Nacken
Diese Handlungsaktion kann Tori beispielsweise auflösen, indem er Ukes rechten Ellbogen mit den Kopf herabdrückt, dann hochreißt und mit dem Kopf untertaucht und mit Aushebetechniken wie z.B. Te-Guruma, Te-Guruma mit Fußfegeansatz (auch Aktion-Reaktion-Kombination) oder Kata Ashi Dori beendet.
Die SV-spezifische Ausgangssituationen lassen sich z.B. Kragenfassen von hinten, Schlag von oben oder Schlag von außen – ohne die SV-Situation zu verfremden – in diese Handlungssituation aus dem Wettkampfjudo überführen. Bei den Schlagangriffen ist eine Ausweichbewegung kombiniert mit einem Schulter-/Oberarmblock einzubauen.
Judo-Handlungssituationen "einarmiges Fassen rechts-links"
Diese Wettkampfsituation kann nach Grifflösen und z.B. Fassen auf Ukes Rücken mit einem Einhängen in der Art von Ko Soto Gake, Ko Uchi Maki Komi oder auch mit von außen eingedrehten Wurftechniken aufgelöst werden.
Als SV-spezifische Ausgangssituationen lassen sich z.B. Schlagangriffe von außen, von oben (bei Schlägen von außen ist die Fußstellung für die Wurfausführung zu berücksichtigen) oder auch das einseitige Reversfassen in diese Handlungssituation aus dem Wettkampfjudo überführen.
Zusammenstellung der "judofremden" Elemente
Die hier als "judofremde" Elemente bezeichneten Techniken beziehen sich auf Aktionen des Verteidigers (Tori), die zusätzlich in das judospezifische Technikrepertoire intergriert werden, um der Verteidigungssituation gerecht zu werden.
Dies wären:
- einfache Schutzreaktionen wie Ausweichen und Meidbewegungen
- verschiedene Grifflösetechniken
- einfache Schläge, Stöße und Tritte
- Blocks oder Paraden
Diese Elemente gehören mit zum Trainingsumfang und können von ihrer Methodik her gesondert trainiert werden, sollen aber in der Ausbildungs- und Prüfungsordnung nicht als seperater Technikteil geführt und geprüft werden. So sollen beispielsweise einfache Schläge oder Tritte nicht unter einem gesonderten Punkt in einer Prüfung demonstriert oder bewertet werden.
Das Gefahrenpotential der verschiedenen selbstverteidigungsbezogenen Ausgangssituationen ist zu beschreiben, d. h. die Beonderheiten der verschiedenen Angriffe zu vermitteln.
SV-Situationen in der Bodenlage
Die Selbstverteidigung in der Bodenlage wird weitestgehend in einer Art Bodenrandori geübt. Abweichend vom Judo-Randori sollte man bemüht sein, sein Gesicht vor Schlägen zu schützen.
Trainingsmäßig kann dies geübt werden, indem man während des Bodenrandori als "Angreifer" versucht dem Partner die Hand in das Gesicht zu legen.
Typische Abwehr-Angriffsituationen, z.B. Umklammerungen in der Bankstellung (von vorne, von der Seite) oder auf dem Bauch sitzend, sind einzunehmen und mit den obigen Vorgaben aufzulösen.
Bei Haltegriffen ist zu untersuchen, ob eine vollständige Kontrolle des "Angreifers" gegeben ist, d. h. dass ein Schlagen, Treten, Beißen etc. seitens des Angreifers ausgeschlossen werden kann.
Bei den judobezogenen SV-Situationen ist bewußt auf reine Atemi-Techniken als auch weitestgehenst auf die verschiedenen Hebel an anderen Gelenken als dem Ellbogengelenk, wie z.B. dem Handgelenk etc., verzichtet worden.